Der ersten urkundlichen Erwähnung Marburgs von 1138/39, folgte die als Stadt im Jahre 1122. Aus heute wüsten Orten der Umgebung zogen deren Bewohner zum Schutz an die Hänge unterhalb der Burg, die früh von einem Ring von Burgmannensitzen umgeben war. Wirkliche Bedeutung erhielt Marburg erst, als Landgräfin Elisabeth von Thüringen die Stadt 1228 zum Witwensitz auswählte. Durch Pflege von Kranken und Gebrechlichen im von ihr gebauten Hospital wurde sie nach ihrem frühen Tod mit 24 Jahren zum großen Vorbild christlicher Nächstenliebe und schon 1235 heiliggesprochen. Noch im gleichen Jahr begann der Deutsche Orden mit dem Bau der ersten gotischen Kirche in Deutschland über ihrem Grab, das sofort Pilger aus ganz Europa anzog, obwohl die Kirche erst 1283 eingeweiht wurde. Marburg blühte auf.

Nach dem Aussterben der Landgrafen von Thüringen im Jahre 1247 erreichte es die Tochter Elisabeths, Sophie von Brabant, ihren Sohn Heinrich 1247 zum Landgrafen ausrufen und ihm huldigen zu lassen. Im nun folgenden hessisch-thüringischen Erbfolgekrieg (1247-1264), erreichte die für ihren unmündigen Sohn kämpfende Sophie, dass Hessen unabhängig und Heinrich zum ersten Herrscher der Landgrafschaft Hessen wurde. Als er 1292 von König Adolf von Nassau in den erblichen Reichsfürstenstand erhoben wurde, war die Landgrafschaft offiziell reichsrechtlich anerkannt.

Um seinem Fürstentum auch äußerlich Ausdruck zu verleihen, wurde Marburg mit Erweiterung der Stadtmauern zur Residenz und Festung ausgebaut. Als die Einwohnerzahl immer weiter zunahm, erbauten die Bürger der Stadt als Ersatz für die zu klein gewordene Kilianskapelle die mächtige, später lutherische Pfarrkirche St. Marien, ihr Chor wurde 1297 geweiht.

Die zweimal erfolgte Teilung Hessens in Ober- und Niederhessen, 1308-1311 bzw. 1458-1500, führte zu einer bleibenden Schwächung Marburgs, weil nun Kassel für Niederhessen zweite Residenzstadt geworden war, die Landgrafen auch im wieder vereinten Hessen abwechselnd in Kassel oder Marburg residierten.

1319 wurde Marburg fast vollständig durch einen Brand zerstört und ihre Einwohnerzahl 1348/49 durch Pest stark dezimiert. Gegen Ende der Auseinandersetzungen mit dem Sterner-Ritterbund versuchte ihr Führer, der Graf von Ziegenhain, vergeblich Stadt und Schloß zu erobern.

Der 1504 geborene Philipp I. (der Großmütige) führte bereits 1527 in Hessen die Reformation durch und gründete im gleichen Jahr die nach Liegnitz zweite protestantische Universität in Marburg, bis heute der wichtigste Wirtschaftsfaktor der Stadt. Nach dem Tod Philipps I. im Jahre 1567 wurde die Landgrafschaft „nach den altertümlichen Erbregeln im hessischen Fürstenhaus“ unter seine vier Söhne aufgeteilt. So erhielt sein Sohn Ludwig Hessen-Marburg. Da er 1583 kinderlos starb, fiel sein Territorium wieder an die Kasseler Linie.

Ab 1604 blieb die Landgrafschaft dauerhaft in Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt geteilt. Beide Linien führten über Jahrzehnte und durch den ganzen Dreißigjährigen Krieg den sogenannten Marburger-Erbe-Krieg. Zwar war Hessen-Marburg testamentarisch an Hessen-Kassel gefallen. Das aber unter der Bedingung lutherisch zu bleiben. Da Landgraf Moritz der Gelehrte jedoch auch dort zwangsweise das Deutsch-reformierte Bekenntnis durchsetzte, gab das dem lutherischen Hessen-Darmstadt – im Dreißigjährigen Krieg an der katholischen Seite des Kaisers – Grund dagegen vorzugehen. 1623 besetzten die Truppen Tillys vorübergehend Marburg. Im sogenannten „Hauptakkord“ von 1627 wurde Hessen-Marburg dauerhaft Hessen-Darmstadt zugesprochen. Landgräfin Amalie-Elisabeth, die für ihren noch unmündigen Sohn, den späteren Wilhelm VI., Hessen-Kassel regiert, erreichte im von ihr 1645 mit der erfolgreichen Belagerung Marburgs begonnenen Hessen-Krieg, den sie drei Jahre später siegreich beendete, dass Oberhessen zwar dauerhaft geteilt blieb, Marburg nun aber wieder zu Hessen-Kassel kam.

Marburgs Bedeutung sank zusehends, war nur noch Verwaltungssitz und militärischer Stützpunkt. Im Zuge der Napoleonischen Kriege mussten 1807 die Festungsanlagen geschleift werden. Im Königreich Westphalen des Jérôme Bonaparte wurde der bis dahin auf Marburg äußerst einflussreiche Deutsche Orden aufgelöst.

Erst mit der Anbindung Marburgs ab 1850 an die Eisenbahnstrecken nach Kassel und Frankfurt am Main erhielt die Stadt neuen Auftrieb, der sich nach der Annexion Kurhessens, 1866, noch verstärkte. Die Universität erlebte einen solchen Aufschwung, dass sich die Einwohnerzahl verdreifachte und die Zahl der Studenten verzehnfachte. Mit dem Bau von Brücken über die Lahn entstanden neue Stadtteile links des Flusses. 1904 wurden die Behringwerke gegründet. 2018 zählt Marburg rund 74 000 Einwohner und ca. 26 000 Studenten.1

 

Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts sind mehr als 30 Marburger Goldschmiede bekannt, etwa ebenso viele wie auch in Kassel. Im genaueren Vergleich zeigen sich deutliche Unterschiede hinsichtlich ihrer Bedeutung und zeitlichen Verteilung. Bis zur Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts war Marburg alleinige Residenz der Landgrafen. Und vor allem von ihnen und ihrem Hof erhielten sie, wie die urkundlich erwähnten Werke zeigen, anspruchsvolle Aufträge. Dann aber mussten sich die Goldschmiede der Stadt die Aufträge für Hof und Adel mit den Kasseler Kollegen teilen. Als Marburg 1604 endgültig seinen Rang als Residenzstadt verlor, konnten nur noch wenige Goldschmiede von den Aufträgen einer Kleinstadt leben, wenn auch Sitz des Deutschen Ordens und der Universität.

Bis zur verordneten Gründung der Kasseler Gilde im Jahre 1652, deren Statuten für die gesamte Landgrafschaft gelten sollten, hat sich bis heute als einzige erhaltene Arbeit von der Hand der Marburger Goldschmiede die Turmmonstranz von 1398 des Goldschmied Heinrich I. nachweisen lassen. Deutlich besser bekannte Lebensdaten und urkundlich gesicherte Werke als in Kassel nützen nichts, wenn Meister- und Beschauzeichen komplett fehlen für eine Zuordnung möglicherweise noch vorhandener Werke. Die Neigung Goldschmiededynastien zu bilden ist auch in Marburg vorhanden, aber längst nicht so ausgeprägt wie in den deutlich kleineren Städten Hessens, wie z. B. in Eschwege.

Kaum aber sind Beschau- und Meisterzeichen verbindlich vorgeschrieben, zeichnet Goldschmied Christophorus Schultheiss die von ihm als Ersatz angefertigten Abendmahlskannen für die im Dreißigjährigen Krieg verloren gegangene Geräte der Marienkirche (25a-d). Als Beschauzeichen wählt er das gotische M gleich dem an der Fassade des alten Marburger Rathauses.2

Auf sechs Stücke wird der Kannensatz erweitert von seinem Sohn Johann Jacob (34a) und Johann Christoph Köhler (40d). Obwohl Oberhessen und damit Marburg durch Landgraf Moritz (1592-1627) entgegen den testamentarischen Verfügungen seines verstorbenen Onkels Ludwig IV. (1592-1604) unter dramatischen Umständen zum Deutsch-Reformierten Bekenntnis gezwungen worden war, sind die Kannen sämtlich mit dem für die Zeit üblichen Dekor verziert, wie das nebenstehende Bild zeigt. Mit anderen Worten: Goldschmied Schultheiss hat mit seinen Kollegen bis 1711 die Abendmahlskannen - ohne jene reformierte Strenge wie in Kassel - zeittypisch gestaltet.3

Wie noch mehrfach ausgeführt werden wird, schmolz man in Hessen-Kassel bei anwachsender Gemeinde nicht etwa vorhandene Kannen oder Kelche ein, sondern arbeitete den ersten Exemplaren, so eng wie möglich am Vorbild orientiert, weitere zu, ohne auf den jeweiligen Zeitstil zu achten. Denn Formen und Dekore der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts waren längst unmodern, als 1711 die letzte Kanne Marburgs in Auftrag gegeben wurde.

Wurden jedoch Kannen für die offensichtlich reformierten Stifter in der Gemeinde Datterode (40b) oder für die Stadtkirche von Bad Wildungen (40c) bestellt, dann arbeitete der gleiche Joh. Christoph Köhler die birnenförmigen Kannen im „Schlichten Stil“, das heißt so gut wie ohne Verzierung in perfekter Treibarbeit allein guten Proportionen verpflichtet.

Die Kelche der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts fertigten die Goldschmiede Joh. Winrich Höstener (26a) und sein Sohn Johann Philipp (36a) in gotischer Neorenaissance oder sie folgten dem dominierenden Kelchtyp Kassels,4 z. B. „Meister mit möglicherweise vier Buchstaben im MZ“ (26a) oder Johann Jonas Saul (36a). Im 18. und 19. Jahrhundert bleiben die Kelche ohne Verzierungen im jeweiligen Stil der Zeit. In der Regel auf mehrpassigem Fuß mit getreppt gewölbter Schulter und schlankem Schaft, geben umgekehrt birnen- und kissenförmige sowie sechsflächige und kugelförmige Knäufe den Pfarrern festen Halt bei der Austeilung des Abendmahls. In ihren Silhouetten sind sie wohl mehr an den Kelchformen Frankfurts orientiert.

So wie die Kannen (für die Marienkirche) entsprechen auch Brotteller (Patenen), Löffel und Hostiendosen exakt den Silbergeräten für den profanen Gebrauch. Auffällig ist die Formenvielfalt letzterer im jeweils herrschenden Stil durch das 18. Und 19. Jahrhundert. Ausnahmslos in Abwicklung (Zargenarbeit) aus geschlagenen Blechen sind die runden, ovalen, achteckigen oder bombierten Gefäßkörper mit eingelötetem Boden hergestellt, die Pressdeckel aber sind getrieben mit passigen Schultern, oft bekrönt mit einem gegossenen Lamm Gottes oder einem lateinischen Kreuz. Die ovale Taufschale des Georg Friedrich Maykämmer von 1790 (52a) hat die Form des Beckens einer Lavabo-Garnitur. August Falck war der letzte Marburger Goldschmied, der bei hohem handwerklichem Können und mit seinem Stilmix aus Historismus und Jugendstil sehr erfolgreich gewesen ist, wie am Beispiel des Kirchensilbers von Allendorf/Lahn pars pro toto verdeutlicht wird (61b-e).

Nur sehr wenige Stücke profanen Silbers – sieht man ab von einigen Löffeln – aus den Werkstätten der Goldschmiede Marburgs haben die Zeiten überdauert. Darin unterscheidet sich die Stadt nicht von wesentlich kleineren Orten Hessens. Samt und sonders wurde das alte, unmodern gewordene Tafelsilber eingeschmolzen, um daraus Geräte nach neuester Mode arbeiten zu lassen. Es ist zu vermuten, dass sich Matthäus I. Klingelhöfer darauf spezialisiert zu haben scheint, ohne Auftrag Huldigungsbecher verschiedener Fürstenhäuser anzufertigen, um sie an jeweilige Parteigänger zu verkaufen. (31a, b). Einzig die hervorragend gearbeitete, eindeutig an hugenottischen Vorbildern orientierte Schokoladenkanne des Johann Helfrich Henck (42f)5 gibt Zeugnis für das sicher hohe Können vieler seiner Marburger Kollegen auch bei der Herstellung profanen Tafelsilbers.

 

Anmerkungen

1. https://de.wikipedia.org/wiki/Marburg.

2. Ein sitzendes Äffchen hält das Wappen in der linken Pfote (https://de.wikipedia.org/wiki/Rathaus_Marburg).

3. Schultheiss war dezidiert Lutheraner und natürlich auch sein Sohn. Vom zugezogenen Christoph Köhler ist die Religionszugehörigkeit nicht bekannt.

4. Siehe ausführlich: Neuhaus, Patronatssilber, S. 42ff.

5. Siehe Schokoladenkanne des Ludwig I. Rollin, in: Kassel 1998, Nr. 34.

 

 

 

Beschauzeichen von Marburg

 

Die Goldschmiede von Marburg ab 1600 - Lebensdaten und Werke
Tabelle mit den Lebensdaten der Marburger Goldschmiede ab 1600, einschließlich der Abbildung ihrer bekannten Werke.
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© Dr. Dr. Reiner Neuhaus