Obwohl erst von 1231/32 die erste sichere urkundliche Erwähnung erhalten ist, wird Gießen wenig später, 1248, schon als Stadt bezeugt. 1264/65 erwarb Landgraf Heinrich I. von Hessen die Stadt durch Kauf. Eine Ringmauer befestigte ab Ende des 13. Jahrhunderts den Ort. Um 1300 lassen die Landgrafen das „Alte Schloß“ erbauen und die Neustadt anlegen. 1326 stellte Landgraf Otto I. die Siedler derselben mit denen der alten Siedlung rechtlich gleich. Ab spätestens 1367 gibt es einen Bürgermeister, dem laut Urkunde von 1371 Rat und Schöffen zur Seite stehen. Erste Zünfte wurden in den 60er Jahren des 15. Jahrhunderts gegründet. Die von der Landwirtschaft geprägte Stadt lässt bis 1533 die alte Stadtmauer abbrechen und dafür einen neuen Wall um den inzwischen vergrößerten Ort errichten. In die gleiche Zeit fällt die Erbauung des „Neuen Schlosses“.

Bei der Teilung der Landgrafschaft nach dem Tod Philipps gelangte Gießen 1567 zu Hessen-Marburg. Nach dem Tod des kinderlosen Landgrafen Ludwig IV. fiel dessen Landesteil an die Landgrafschaft Hessen-Darmstadt. Ein Privileg Kaiser Rudolph II. ermöglicht 1607 die Gründung der protestantischen Landesuniversität. 1634 dezimiert eine Pestepidemie die Zahl der Einwohner um ein gutes Drittel. Hoffnungen des Landesherrn auf größeren Einfluss auf die Stadtregierung erfüllten sich nicht. Durch den nun starken Einfluss der Zünfte erfolgte eine Reduzierung des XVI. Rates auf acht Personen. Dieser folgte später eine Aufteilung in acht XVIer auf Lebenszeit, acht Ratsherren und acht Deputierte, die zunächst auf Lebenszeit, dann auf drei Jahre von den Bürgern gewählt wurden. Trotz Universität und Garnison blieb Gießen auch Ende des 18. Jahrhunderts weiter stark landwirtschaftlich geprägt. Die Koalitionskriege nach der Französischen Revolution brachten schwere Belastungen für Gießen durch Besetzung, Bombardement und hohe Kontributionen. 1803 wurde Gießen Verwaltungssitz der neuen Provinz Oberhessen im Großherzogtum. Mit dem Schleifen der Befestigungsanlagen im Jahre 1806 war Gießen nicht mehr Festung, wird aber nun 1867 Garnisonstadt. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts erholt sich Gießen, die Zahl der Bürger nahm nun kontinuierlich zu, dies alles vornehmlich durch die neuen Bahnanbindungen.1

 

Scheffler lieferte bereits 1976 eine fast vollständige Liste der in Gießen tätigen Gold- und Silberarbeiter, deren Lebensdaten dank der Digitalisierung der Kirchenbücher der Stadt über Archion fast lückenlos komplettiert werden konnten. Doch zwei Gründe verhindern, dass den Goldschmieden Gießens, wie auch in den anderen Orten auf dem Gebiet des ehemaligen Großherzogtums Hessen-Darmstadt, existierende Werke zugeschrieben werden können.2 Werner Schmidt hatte bereits im Rahmen seiner nach wie vor so wichtigen Artikelserie „Goldschmiedemarken: neue Forschungsergebnisse“ in WELTKUNST 1998 den ersten Grund herausgearbeitet. Bis 1829 galt im Großherzogtum lediglich die Vorschrift, wonach Silberarbeiten nur mit dem Zeichen des Herstellers und einer Feingehaltsangabe in Lot zu versehen waren. Bei Silber war allein 12- und 13lötiges Silber zugelassen.3 Was sich ab 1829 änderte, siehe unten.

Zum Zweiten gibt es bis heute, im Gegensatz zu ihrer hessischen Schwesterkirche, in der Ev. Kirche von Hessen-Nassau keine Inventarisierung des beweglichen Kirchengutes, also auch keine Erfassung der silbernen Abendmahls- und Taufgeräte der Gemeinden. Wie aus den Beiträgen zu „Die Goldschmiede der kleineren Städte Hessens“ auf der website des Autors ersichtlich, sind sie aber das entscheidende Reservoir für die Entdeckung und Zuweisung von Beschau- und Meisterzeichen an die Städte Hessens und ihre Goldschmiede. Auch die hier in die Tabelle aufgenommenen BZ und MZ auf Arbeiten von der Hand Gießener Goldschmiede fanden sich – bis auf das 19. Jahrhundert – ausschließlich auf Kirchengeräten.

Mit einer Ausnahme. 1561/62 schuf nach Vorlagen Landgraf Wilhelm IV. nach dem neuen heliozentrischen System der geniale Eberhard Baldewein (*um 1525, †1593, Hofbaumeister, Uhrmacher, Astronom) zusammen mit dem Gießener Goldschmied Herman(n) Diepel (*?, begraben am 18.12.1586 als „Herman Goltschmidt“) das bedeutendste mechanisch-astronomische Instrument seiner Zeit, die Planetenlaufuhr („Wilhelmsuhr“). Gesichert ist, dass Diepel den Himmelsglobus mit den meisterhaft gestochenen Sternbildern, die bekrönende Figur des „Salvators“ und die Verzierungen der Zifferblätter arbeitete.4

An der noch deutlich aufwendigeren, größeren und reicher verzierten Planetenlaufuhr („Baldeweinuhr“) für den Schwager Wilhelm IV., Kurfürst August von Sachsen, die zwischen 1563 – 68 von Baldewein und dem Augsburger Uhrmacher Hans Bucher gebaut wurde, hat Diepel wiederum erheblichen Anteil, indem er, wie schon für die „Wilhelmsuhr“ die gleichen Arbeiten ausführte und wohl auch die verloren gegangenen bekrönende Figur schuf.5 Welche der zahlreichen weiteren getriebenen und gegossenen silbervergoldeten Verzierungen von seiner Hand sind, wird die laufende Auswertung des Briefwechsels zwischen Baldewein, Wilhelm IV. und August von Sachsen in den nächsten Monaten ergeben.6 Während beide Planetenlaufuhren hinsichtlich Mechanik und Astronomie eingehend gewürdigt wurden, über die Leistung des Goldschmieds bisher kaum ein Wort. Doch selbst wenn alles Weitere nicht von ihm gearbeitet sein sollte, ist Herman(n) Diepel, hochgeachtet auch Schultheiß Gießens, einer der bedeutendsten Goldschmiede und Stecher des 16. Jahrhunderts.

Wie für alle kleineren Städte Hessens sind auch in Gießen erhaltene, mit Marken versehene Kirchengeräte erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu erwarten. Johann Jacob Rieß, dessen Kannenpaar (8a, b) große Ähnlichkeiten mit den Abendmahlskannen Marburgs und Wetzlars aufweist, stempelte – wie auch auf allen seinen erhaltenen Arbeiten - zweimal mit seinem Meisterzeichen, Johann Matthaeus Schenck wählte sich als Beschauzeichen ein Großes G im Hochoval (10a, b), Johann Christian Dieffenbach ein bekröntes G im Hochoval.7 Kein Zweifel, mit der Erschließung und Inventarisierung des beweglichen Kirchengutes der Ev. Kirche von Hessen-Nassau ließen sich wohl auch den urkundlich bekannteren Goldschmieden des 18. Jahrhunderts existierende Arbeiten von ihrer Hand zuweisen.

Da Silberarbeiten im Großherzogtum nur mit Meister- und Feingehaltszeichen gestempelt werden mussten, aber kein amtliches Beschauzeichen dem Besteller die Richtigkeit der verabredeten Lötigkeit garantierte, geriet das den Goldschmieden des Landes gegenüber den Konkurrenzprodukten aus den Nachbarstaaten immer wieder zum Nachteil. Die durch die Nähe zu Frankfurt besonders betroffenen Gold- und Silberarbeiter Offenbachs richteten am 19. Februar 1824 an den Großherzoglich Hessischen Landrat die Eingabe „endlich ein landeseinheitliches Edelmetallbeschauverfahren einzuführen“. Erst fünf Jahre später erließ der Großherzog am 23. April 1829 eine „Verordnung, die Aufsicht über die Fabricate der Gold- und Silberarbeiter betr.“ Wieder wurde versäumt, eine Beschau für alle im Großherzogtum hergestellten Silberwaren verbindlich vorzuschreiben. Vielmehr sei nach § 2 eine „besondere Probe“ nur dann vorzunehmen, wenn sie von der Polizeibehörde, dem Verkäufer, dem Käufer oder einem dritten Besitzer der Ware verlangt wird, sollte der Verdacht bestehen, dass einem „Fabricat ein höherer Gehalt aufgeschlagen sey, als dasselbe hat“. „Zur Vornahme der auf Verlangen (§ 2) anzustellenden Probe“ werden von den betreffenden Provinzialregierungen der Städte Darmstadt, Gießen, Mainz, Offenbach und Worms „besondere Waradeine angestellt und hierauf verpflichtet“ (§ 3). Schmidt konnte nun in seinem Beitrag die konkrete Handhabung des Waradein-Wesens für Offenbach, Darmstadt und Mainz klären. Als Garantie für die Richtigkeit der für den Gegenstand verabredeten Lötigkeit wählte man als Waradein-Marke den steigenden doppelschwänzigen Hessischen Löwen mit Schwert in der rechten Tatze aus dem Großherzoglichen Landeswappen und – nicht obligatorisch – begleitet von der persönlichen Marke des Waradeins.8

Für Gießen fand man eine originellere Gestaltung der Waradein-Marke, indem man den Hessischen steigenden Löwen ohne Schwert und Doppelschwänzigkeit mit dem großen G für Gießen umgab, die 13 für die Lötigkeit daruntersetzte und damit alle wichtigen Informationen in einer Marke vereinte.9 Da wie oben ausgeführt, diese „besondere Probe“ nur dann vorgenommen wurde, falls die Polizei oder der Besteller Zweifel an der verwendeten Lötigkeit hatte, sind also weiterhin die meisten Silberarbeiten Gießens ohne einen Waradein-Stempel als amtliche Beschau. Da ihn alle bisher aufgetauchten Besteckteile des Wolfgang Ernst Heinrich aufweisen, lässt die Vermutung zu, dass er selbst Wardein war oder er alle Teile grundsätzlich als Service für den Kunden mit dieser Garantie versehen ließ. Die Arbeiten des Goldarbeiters H. Christian G. K. Brück sind von einem Waradein geprüft worden, denn er stempelte sie auch mit dem Feingehaltszeichen und auf einem Suppenlöffel taucht zusätzlich die persönliche Marke des Waradeins K im abgerundeten Rechteck auf.10

 

Anmerkungen

1. Quellen: Text (https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Stadt_Gie%C3%9Fen), Stich: (Topographia Hassiae:

Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1366727), Wappen: (Von Steschke - Eigenes Werk, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=857349).

2. Damit ist nicht der in allen kleineren und mittleren Städten fast immer komplette Verlust profanen Silbers gemeint, weil es der jeweiligen Mode folgend immer wieder eingeschmolzen wurde und nur durch Zufall das eine oder andere Einzelstück erhalten blieb.

3. Schmidt, Großherzogtum Hessen-Darmstadt, S. 783.

4. Standort: Museumslandschaft Hessen Kassel, Astronomisch-Physikalisches Kabinett.

5. Standort: Mathematisch-Physikalischer Salon, Staatliche Kunstsammlungen Dresden.

6. Mündliche Mitteilung Dr. Peter Plasmeyer, Direktor des Mathematisch-Physikalischer Salons, Dresden.

7. Das lässt vermuten, dass so manche Goldschmiedearbeit Gießens  Städten zugewiesen sein könnte, die ebenfalls ein (bekröntes) G nutzten, z. B. Görlitz, Göttingen oder Gotha.

8. Wie Anm. 3, S.782-784.

9. Wie Anm. 3, S. 784: Eine Waradein-Marke mit dem Hessischen Löwen, der auf einem „Balken steht“, die Schmidt eventuell Worms oder Gießen zuwies, kann nun mit großer Wahrscheinlichkeit Worms zugeordnet werden.

10. Trotz intensiver Suche konnte sie bisher keiner konkreten Person zugewiesen werden.

 

 

 

 

Beschauzeichen von Gießen

 

Die Goldschmiede von Gießen - Lebensdaten und Werke
Tabelle mit den vollständigen Lebensdaten aller Gießener Goldschmiede, einschließlich der Abbildung ihrer bekannten Werke.
Tabelle Gießen mit Lit.-Verzeichnis.pdf
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© Dr. Dr. Reiner Neuhaus